Geben und nehmen

„Das Leben ist ein Geben und Nehmen“ – das weiß jeder und jede. Wer sich auf den materiellen Austausch reduziert, hat es einfach, die Dingen miteinander aufzurechnen. Wie aber sieht es mit der Zeit aus, die wir für andere in Form von Freundschaftsdiensten investieren?

Auch die Zeit lässt sich noch messen, aber schlecht vergleichen. Kein Mensch rechnet dem anderen vor, wie viel Zeit ihn sein Freundschaftsdienst gekostet hat.

So bleibt alles ein bisschen vage. Insgeheim und unbewusst rechnen wir beim Geben und Nehmen immer mit, wieviel wir bereits in eine Beziehung investiert und wie viel wir zurückbekommen haben. Manch einer bereut seine Investitionen nach Jahren und schwört, nie wieder etwas in die Beziehung zu investieren.

Das Geben und Nehmen ist der Grund für einen immerwährenden unterschwelligen Groll bei denen, die stets das Gefühl haben, zu viel zu geben bzw bei den Menschen, die immer das Gefühl haben, zu kurz zu kommen. Kommen zwei solch gegensätzliche Menschen zusammen, entwickelt sich eine explosive Mischung.

Diese „Gefühle“ sind stets präsent. Selbst dann, wenn diese Menschen als Kinder mehr Geschenke bekommen haben als andere, war es nicht genug. Wenn sie später eine schöne Karriere gemacht, aber keine steile, war es nicht steil genug. Wenn sie einen tollen Partner haben, der ihnen die Welt zu Füßen legt, reicht auch das nicht.

Das Gefühl, zu kurz zu kommen, hat nichts mit dem zu tun, was diese Menschen tatsächlich bekommen, sondern mit welchen Glaubenssätzen sie im Leben stehen.

„Meine Bedürfnisse werden nicht wahrgenommen“ – „Ich butter immer nur rein und bekomme nichts zurück.“ – oder „Mit mir kann man es ja machen …“

Yipp, ein Leben lang.

Einerseits lümmeln wir uns in unsere Glaubenssätze rein, und gleichzeitig haben wir das Gefühl, auf einem Fakirbrett zu liegen.

Bedingungslose Liebe

Richtig problematisch wird das Geben und Nehmen auf einer nicht mehr messbaren Ebene. Dann artet diese Redewendung zu einem Appell aus. Sicherlich nicht zufällig stößt man in spirituellen Kreisen häufiger drauf.

Je älter wir werden, desto eher engagieren wir uns auch mal ehrenamtlich. Es ist, als hätten die Älteren im Leben viel bekommen, und nun können sie es aus Dankbarkeit zurückgeben. Oder sind bereit, mal etwas ohne schnelle Gegenleistung zu geben, denn – das haben sie gelernt – es kommt ja irgendwann zurück. Das Universum sorgt für uns. Leben ist ein Geben und Nehmen.

„Bevor wir lernen bedingungslos zu lieben, sollten wir lernen bedingungslos zu geben.“

Doch wie weit sind wir bereit zu gehen? Viele wünschen sich nichts sehnlicher herbei als bedingungslos lieben zu können: Die Kinder, obwohl die sie bis zur Weißglut bringen („Mein Schatz, ich bin kurz davor dich umzubringen – aber ich liebe dich trotzdem“) oder den Partner, der ihnen das Leben versaut und den sie lieber heute als morgen auf den Mond schießen würden.

Doch selbst wenn man das bedingungslose Lieben mit Hilfe von Selbsterfahrungskursen schaffen könnte, dann ist da immer noch ein anderes Problem: sich selbst zu lieben. Bedingungslos. Mit all seinen Schattenanteilen und auch mit der Unfähigkeit, sich selbst nicht bedingungslos lieben zu können.

Wie wär’s mit einem weichen Einstieg? Wir wär’s mit einem bedingungslosen Geben? Oder einem bedingungslosen Nehmen? Das sollte einfacher sein. Aber selbst das kriegen ja nicht alle auf die Reihe.

Sich verschenken

An dieser Stelle möchte ich gern etwas von mir erzählen. Meine Freundin hatte sich – es liegt wenige Jahre zurück – in einen anderen Mann verliebt. Ich musste lernen, mit meiner Eifersucht umzugehen. Im Zuge dieser Auseinandersetzung habe ich eine Visualisierung gemacht.

Wie ich in diese Visualisierung eingestiegen bin, weiß ich nicht mehr. Aber irgendwann stellte ich mir vor, wie mein Herz schlapp und vertrocknet an einem Strauch hing.

Ich fragte meine Herz, was es bräuchte, und es antwortete mir, dass es etwas zu Essen bräuchte. Und so fütterte ich es. Mein Herz kam wieder zu Kräften und pumpte gleichmäßig. Der Strauch ergrünte, und es wuchsen neue Zweige an diesem Strauch, an dem – das war das Erstaunliche – weitere kleine Herzen hingen. Keine Schokoherzen, sondern kräftig schlagende Herzen. Nicht zwei, nicht fünf, sondern viele viele viele.

Es war eine wundervolle Visualisierung. Die Eifersucht ließ rapide nach. Vielleicht weil mir klar geworden war, dass es nicht darum geht, sein Herz – das einzige, das man glaubt zu haben – einer einzelnen Person zu schenken, sondern dass es darum geht, uns an alle Menschen zu verschenken. Ich hatte genug Herzen, die ich verschenken konnte, und sie wuchsen immer wieder nach.

Meine Freundin konnte mir nicht mehr mein Herz entreißen, aber ich konnte es ihr schenken. Jeden Tag ein neues. Wie ging die Geschichte zu Ende? Nun ja, sie ist heute noch meine Freundin, und den Typen, in den sie sich verliebt hatte, den hat sie schon lange nicht mehr gesehen. Ihm übrigens hatte ich auch Herzen geschenkt – ich hatte ja genug.

Durch diese Visualisierung wurde mir klar, dass wenn wir glauben, nur ein Herz zu haben, wir auch Angst haben, es herzugeben. Denn was bleibt dann noch?

Meine Ressourcen sind nicht endlich, sondern unendlich. Ich kann geben und geben, ohne das Gefühl zu bekommen, dass ich ausgenutzt werde oder mich selbst ausnutze. Das klingt sehr pathetisch – und das ist es auch. Natürlich habe auch ich meine Grenzen. Auch ich gehe bei Menschen noch vorsichtig auf Distanz, für die das Wort „Geben“ ein Fremdwort ist. Und doch ist es völlig anders als früher.

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Wachstum und Entwicklung

Gleichzeitig kann ich die Angst der Nur-Nehmenden gut nachvollziehen. Es ist nicht bösartig, sondern ein versteckter Egoismus. Wir wachsen in einer Gesellschaft auf, in der jeder Egoismus verpönt ist. Selbst ein „Ich“ am Satzanfang wird bei Kindern korrigiert. „Nicht ‚Ich und Marvin‘, sondern ‚Marvin und ich’“.

Was wir vor allem aber lernen, ist es, unseren vorhandenen Egoismus zu verstecken. Wir wollen ihn nicht sehen, wir blenden ihn aus – und doch ist er da.

In einer Gesellschaft, in alles messbar ist, gibt es keine Wertschätzung für das, was wir gerade erreicht haben und wo wir gerade stehen, weil es immer etwas gibt, was noch nicht erreicht ist. Wir leben in einer Gesellschaft, in der wir uns gegenseitig zu mehr Leistung anfeuern und in der es leider nicht mehr so viele Dinge gibt, die sich nicht messen lassen. Wir sind nicht mehr mit dem Herz bei der Sache, sondern mit einem in Statistiken denkenden Verstand, der sich ständig mit anderen vergleicht und auch immer jemanden findet, der es besser kann.

„Gras wächst auch nicht schneller, wenn man dran zieht.“

Selbst bei den Menschen, die unter der Herzlosigkeit der Gesellschaft leiden, die aus dem belanglosem Trott von Beruf und Familie und Reisen und Verabredungen ausbrechen wollen und sich der Selbsterfahrung und der Spiritualität zuwenden, hadern mit ihrem Zustand: „Ich bin noch nicht weit genug!“ oder „Ich sollte schon weiter sein!“. Auch da ist noch – gefühlt – Luft nach oben. Erleuchtung kann gar nicht schnell genug kommen.

Was uns fehlt ist ein Gefühl für Wachstum und Entwicklung. Gras wächst nicht schneller, wenn man dran zieht. So wahr, doch leider haben wir diese Weisheit nicht verinnerlicht.

Fehlende Wertschätzung

Ich glauben, dass betrifft alle Menschen. Im Prinzip hat jeder solche Ressourcen, die aber durch Sprüche wie „Das Leben ist ein Geben und Nehmen“ blockiert werden.

Ein großes Manko ist die fehlende Wertschätzung untereinander.

Wer das Gefühl hat, nicht ausreichend wertgeschätzt zu werden, der knausert damit, Wertschätzung und ein einfaches Lob zu geben. Wir, die wir immer nur an die anderen denken sollen und die wir nach Wertschätzung hungern, können das Prinzip des Geben und Nehmen gar nicht leben.

Ich glauben, dass nur die Menschen wirklich von Herzen geben können, deren Herz voll ist. Mit Liebe und Selbstliebe.

Das Leben ist kein Ponyhof, heißt es knapp. Ja, das stimmt, solange wir nicht bereit sind, es zu einem Ponyhof zu machen. Und es wird zu einem Ponyhof, wenn wir uns selbst lieben. Dann können wir uns auch verschenken.

Zum Autor

Ekke über sich: „Den Sinn meines Lebens sehe ich darin, die Lücke zu füllen, die ohne mich nicht wäre. Diese Lücke öffnet und schließt sich täglich neu.“

Mehr von Ekke Scholz auf seiner Homepage.

Foto von Anna Shvets von Pexels

 

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